Die neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung der EU-Kommission - Neue Spielräume für Vertriebsverträge

Zum 1. Juni 2022 sind in der EU neue Regelungen zum Vertrieb von Waren und Dienstleistungen in Kraft getreten, die Herstellern und Großhändlern deutlich mehr Spielraum bei der Gestaltung von Vertriebsverträgen erlauben. In einigen Bereichen hat es aber auch Verschärfungen gegeben, die Vertragsanpassungen erforderlich machen können. Altverträge genießen noch bis zum 31. Mai 2023  Bestandsschutz. Spätestens dann müssen die Verträge aber an die aktuelle Rechtslage angepasst sein, um Kartellverstöße zu vermeiden.
Mit diesem Artikel wollen wir Ihnen die wichtigsten Punkte erläutern und Ihnen Handlungsoptionen aufzeigen.

I. Was sind die 5 wichtigsten Änderungen?

1. Plattformverbote können zulässig sein

Der Verkauf über Onlinemarktplätze wie Amazon, Ebay & Co. durch die eigenen Händler war vielen Herstellern und Großhändlern schon seit langem ein Dorn im Auge. Schon immer hat es daher seitens der Hersteller Versuche gegeben, den Händlern vertraglich den Vertrieb über solche Plattformen zu untersagen. Bislang war dies allerdings meist unzulässig, weil das Kartellrecht Internetverkäufe privilegierte. Lediglich bei Luxus- und Prestigeartikeln wurde die Zulässigkeit solcher Plattformverbote in selektiven Vertriebssystemen in bestimmten Fällen akzeptiert.

Hier sorgt das neue Recht für einen regelrechten Paukenschlag. Plattformverbote sind nun erstmals zulässig, wenn bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten werden. Der „normale“ Onlineverkauf  über den eigenen Webshop darf dem Händler aber nach wie vor nicht verboten werden.

2. Mehr Spielraum bei Gebietsaufteilungen/ Alleinvertriebssystemen

Hersteller nehmen beim Vertrieb ihrer Produkte häufig und gerne Gebiets- oder Kundenaufteilungen vor. So kann z.B. das Gebiet Frankreich exklusiv dem Händler A zugewiesen werden, Polen hingegen dem Händler B. Oft ist es im Interesse der Parteien, die Händler innerhalb ihrer Gebieten vor aktiven Verkäufen ihrer Vertriebskollegen aus anderen Gebieten zu schützen, beispielsweise um unterschiedliche Preisniveaus zu erhalten. In unserem Beispiel könnte der Händler in Frankreich ein Interesse daran haben, dass der Händler aus Polen nicht aktiv nach Frankreich verkauft. Deshalb werden in Vertriebsverträgen regelmäßig Verbote für den aktiven Verkauf in andere Gebiete vereinbart, den Händlern also Alleinvertriebsrechte eingeräumt. Man spricht dann von einem  Alleinvertriebssystem. Bislang waren solche Verbote kartellrechtlich nur dann zulässig, wenn das Verbot sich auf ein Gebiet bezog, dass sich der Hersteller entweder selbst vorbehalten oder exklusiv einem anderen Händler zugewiesen hatte. Dies führte de facto dazu, dass nur ein Händler pro Gebiet eingesetzt werden konnte.

Hier werden die Regelungen durch die neue Verordnung erheblich gelockert. Der Hersteller darf nun bis zu fünf Händler pro Gebiet einsetzen und kann trotzdem noch aktive Verkaufsverbote aussprechen.

Neu ist auch, dass der Hersteller seinen Händlern nun die Pflicht auferlegen darf, dass diese ihrerseits ihren Kunden den aktiven Verkauf in geschützte Gebiete untersagen müssen. Der Arm des Herstellers reicht als nun deutlich weiter als bisher, weil er die Verbote an die 2. Vertriebsstufe „durchreichen“ kann.

3. Dual-Pricing wird zulässig

Ein weiterer „Kracher“ ist die Legalisierung von dualen Preissystemen (Dual Pricing). Hersteller dürfen nun erstmal unterschiedliche Preise für On- und Offlineverkäufe festsetzen, also vom Händler unterschiedlich Preise verlangen, je nachdem, ob dieser die gekauften Produkte on- oder offline weiterverkaufen möchte. Dies war bislang verboten. Allerdings darf dieses Mittel nicht dazu eingesetzt werden, den Onlinehandel für den Händler unrentabel zu machen.

Ebenfalls neu ist, dass Hersteller ihren Abnehmern nun konkrete Vorgaben machen können, welche Mindestanforderungen deren Webshops haben müssen (z.B: Betrieb eines Online-Kundendienstes, Verwendung sicherer Zahlungssysteme, usw.). Diese Vorgaben müssen auch nicht mehr gleichwertig zu den Anforderungen im stationären Handel sein.

4. Vorsicht beim dualen Vertrieb

Auch beim dualen Vertrieb gibt es Änderungen. Unter „Dualem Vertrieb“ versteht man Vertriebsstrukturen, in denen der Hersteller seine Produkte auch selbst an Endkunden vertreibt und dadurch in direkten Wettbewerb zu seinen Vertriebspartnern tritt. Diese Konstellation tritt immer häufiger auf, weil immer mehr Unternehmen dazu übergehen, ihre Produkte auch selbst (meist online
über den eigenen Webshop) anzubieten.

Der duale Vertrieb bleibt zwar weiterhin grundsätzlich zulässig. Allerdings ist bei der Vertragsgestaltung äußerste Vorsicht geboten. Denn häufig verlangen die Hersteller in den Vertriebsverträgen weitgehende Informationspflichten des Händlers, z.B. über Preise, Umsätze, Kunden oder technische Daten. Da der Hersteller aber in der Konstellation des dualen Vertriebs direkter Wettbewerber
seines Händlers ist, ist ein solcher Informationsaustausch kartellrechtlich problematisch.

Hier hat die neue Verordnung Klarheit darüber gebracht, welche Informationen ausgetauscht werden dürfen und welche nicht. Beispielsweise dürfen Kundennamen und zukünftige Verkaufspreise nicht ohne weiteres verlangt werden, technische und logistische Informationen hingegen schon.

5. Längere Wettbewerbsverbote zulässig

Bislang durfte ein Wettbewerbsverbot in einem Vertriebsvertrag grundsätzlich maximal für fünf Jahre vereinbart werden. Die neue Verordnung erlaubt nun, dass Wettbewerbsverbote sich nach fünf
Jahren stillschweigend verlängern dürfen. Zulässigkeitsvoraussetzung ist lediglich, dass der Händler die Möglichkeit hat, sich nach 5 Jahren vom Wettbewerbsverbot durch Kündigung zu lösen oder es neu zu verhandeln.

II. Ab wann gelten die neuen Regeln?

Die Regelungen sind bereits zum 01.06.2022 in Kraft getreten. Es gibt aber eine Übergangsfrist für Altverträge bis zum 31.05.2023

III. Wer ist betroffen?

Betroffen ist jedes Unternehmen das Produkte (Waren oder Dienstleistungen) über Absatzmittler (Händler, Handelsvertreter, Makler) absetzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie Hersteller oder Großhändler sind.

IV. Was ist nun zu tun?

Hersteller sollten Ihre Vertriebsverträge dringend im Hinblick auf die neuen Vorgaben überprüfen. Denn einerseits gibt es an vielen Stellen nun mehr rechtlichen Spielraum, der ausgenutzt werden sollte. Anderseits ist in vielen Bereichen nun klarer geworden, was zulässig ist und was nicht. Die neue Verordnung kann daher bislang zulässige Klauseln kartellrechtswidrig werden lassen. Diese potentielle Kartellrechtswidrigkeit kann aber nicht nur zur Unwirksamkeit der Klausel oder des gesamten Vertrags führen, sondern zudem mit empfindlichen Bußgeldern geahndet werden.

Folgende Punkte sollten Sie daher in Ihren Verträgen prüfen:

      • Plattformverbote in Vertriebsverträge aufnehmen?
      • Dual-Pricing einführen?
      • Vertriebsverträge mit Großhändlern überprüfen, um auch auf der nächsten Vertriebsstufe (Einzelhändlern) Aktivverkäufe in geschützte Gebiete unterbinden zu können
      • Vertriebssystem überprüfen und ggfls. weitere Händler für bestimmte Gebiete einsetzen, um intra-brand Wettbewerbs zu schaffen
      • Vertriebsverträge auf unzulässigen Informationsaustausch überprüfen
      • Wettbewerbsverbote in Vertriebsverträgen verlängern

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