VG Hamburg: Schließung großer Einzelhandelsgeschäfte rechtswidrig

22. April 2020

Das Verwaltungsgericht Hamburg hat am 21. April 2020 einen bemerkenswerten Beschluss im Eilverfahren getroffen (Az. 3 E 1675/20):

Die Antragstellerin betreibt ein Einzelhandelsgeschäft mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm. Sie beantragte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes festzustellen, dass das Verbot, Verkaufsstellen des Einzelhandels, deren Verkaufsfläche nicht auf 800qm begrenzt ist, für den Publikumsverkehr zugänglich zu machen, für sie nicht gelte. Angeordnet wird ein solches Verbot durch § 8 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO in der Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung der § 8 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO vom 17. April 2020.

Das angerufene Verwaltungsgericht Hamburg gab dem Antrag statt. Gegen den Beschluss kann noch bis zum Ablauf der zweiwöchigen Frist nach § 147 Abs. 1 S. 1 VwGO ab Bekanntgabe beim Oberverwaltungsgericht Beschwerde eingelegt werden.

 

I. Zur Zulässigkeit

Richtigerweise nahm das Gericht an, dass die Antragstellerin ihr Begehren auch im Wege einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO bzw. im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Wege eines Feststellungsantrages nach § 123 VwGO verfolgen könne. Dahinter stand die Frage, ob dieser Rückgriff auf die Feststellungsklage nicht eine Umgehung des in § 47 VwGO geregelten Normenkontrollverfahrens darstelle, welches grundsätzlich zur Verfügung steht, um untergesetzliche Normen auf ihre Gültigkeit zu überprüfen.

Zwar bestand im vorliegenden Fall diese Möglichkeit für die Antragstellerin nicht. Denn der hamburgische Gesetzgeber hat von der in § 47 Abs. 1 Nummer 2 VwGO eröffneten Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht, dem Oberverwaltungsgericht auch die Überprüfung von anderen untergesetzlichen Normen als Satzungen, die nach dem Baugesetzbuch erlassen worden sind, zuzuweisen. Der Antrag der Antragstellerin war daher schon deshalb statthaft, weil sie ansonsten keinen Rechtsschutz hätte erlangen können.

In der Begründung seiner Entscheidung wies das Verwaltungsgericht aber darauf hin, dass das Normenkontrollverfahren auch aus anderen Gründen eine Feststellungsklage (oder den entsprechenden Eilantrag) nicht sperrt. Denn die beiden Verfahren verfolgen unterschiedliche Rechtsschutzziele: Während das Normenkontrollverfahren darauf zielt, abstrakt zu klären, ob eine Rechtsnorm gültig ist, ohne dass dies vor dem Hintergrund eines konkreten Sachverhalts erfolgt, dient die Feststellungsklage unmittelbar dem Schutz eines subjektiven Rechts des Klägers, und zwar vor dem Hintergrund eines konkreten Sachverhalts.

Dies bedeutet, dass in vergleichbaren Konstellationen eine Feststellungsklage auch dann statthaft ist, wenn nach dem einschlägigen Landesrecht ein Normenkontrollverfahren gegen die jeweilige Rechtsverordnung möglich wäre (vgl. BVerwG Urteil v. 28. Juni 2000, Az. 11 C 13/99 = NJW 2000, 3584; BVerwG Urteil v. 28. Januar 2010, Az. 8 C 19/09).

 

II. Zur Begründetheit

Ob für die Antragstellerin das von § 8 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO ausgesprochene Verbot gilt, Einzelhandelsgeschäfte mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800qm zu öffnen, prüfte das Gericht am Maßstab der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG und am allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.

 

1. Berufsfreiheit

Es kam dabei zu dem Ergebnis, der Verordnungsgeber habe das ihm von § 28 Abs. 1 IfSG eingeräumte Verordnungsermessen überschritten. Danach sei ein Einschreiten dann gerechtfertigt, solange und soweit es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Zwar stehe dem Verordnungsgeber ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Spielraum zu, wenn es darum geht, Seuchengefahren abzuwehren. Ein Gericht könne aber überprüfen, ob der Verordnungsgeber die gesetzlichen Vorgaben der Verordnungsermächtigung, insbesondere den Sinn und Zweck der Ermächtigung zutreffend beurteilt hat.

An diesem Punkt kommt das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, die Differenzierung allein nach der Verkaufsfläche sei schon nicht geeignet, den verfolgten Zweck zu erreichen. Der Verordnungsgeber sei bei Erlass der Verordnung davon ausgegangen, dass von großflächigen Einzelhandelsbetrieben eine hohe Anziehungskraft ausgehe, sodass die Straßen und die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs stark frequentiert werden, womit wiederum die Gefahr der Verbreitung von Infektionen steige. Diese Anziehungskraft aber bestehe, so das Gericht, in gleicher Weise bei attraktiven und nahe beieinanderliegenden kleineren Verkaufsstellen des Einzelhandels, deren Öffnung nach der Verordnung erlaubt ist. Eine Erhöhung der Infektionsgefahr durch eine Öffnung auch von Geschäften mit großen Verkaufsflächen sei nicht erkennbar.

Zudem seien mildere Mittel vorhanden, um die Infektionsgefahr zu mindern, welche von einer großen Zahl von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen, so etwa die Durchsetzung des nach § 1 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO geltenden Mindestabstandes von 1,5 m. Weiterhin sei es etwa möglich, das Tragen von Mund-/Nasenbedeckungen im öffentlichen Raum anzuordnen.

 

2. Gleichheitssatz

Auch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nimmt das Gericht an. Denn weil das Verbot der Öffnung von großflächigen Einzelhandelsgeschäften nach der Überzeugung des Gerichts schon gar nicht geeignet ist, den verfolgten Zweck zu erreichen, stellt die Größe der Verkaufsfläche auch kein geeignetes Differenzierungskriterium dar, um die Ungleichbehandlung kleiner und großer Einzelhandelsgeschäfte zu rechtfertigen.

 

III. Kommentar

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg weist auf einen prozessualen Weg außerhalb des Normenkontrollverfahrens hin: Mit der Feststellungklage und einem entsprechenden Eilantrag können Betroffene gerichtlich klären lassen können, ob sie von einem Verbot nach einer der verschiedenen, jeweils in den Ländern geltenden Rechtsverordnungen betroffen sind, die erlassen worden sind, um die Gefahren der COVID-19-Pandemie abzuwehren. Die vorliegende Entscheidung stützt sich darauf, dass die hamburgische Rechtsverordnung in dem relevanten Teil rechtswidrig sei, das dort normierte Verbot also gar nicht gelte, und ähnelt insofern einer Entscheidung im Normenkontrollverfahren.

Darüber hinaus kann die Feststellungsklage aber wohl auch dazu dienen, zu klären, ob ein bestimmtes Verhalten einem Verbot aus der im jeweiligen Land geltenden Coronaschutzverordnung unterliegt. Diese Möglichkeit kann dann eröffnet sein, wenn die zu Durchsetzung befugte Behörde im Vorfeld etwa klar zu erkennen gibt, dass sie gegen den Betroffenen ein Bußgeld verhängen werde, falls dieser sich – nach Ansicht der Behörde – verbotswidrig verhalten werde, und so ein Rechtsverhältnis zwischen dem Betroffenen und der Behörde begründet wird (vgl. BVerwG Urteil v. 13. Januar 1969, Az. 1 C 86.64). In dieser Konstellation muss der Betroffene also nicht behaupten, die jeweilige Rechtsverordnung sei, jedenfalls in Teilen, rechtswidrig und damit nichtig, sondern kann seinen Antrag bei Gericht darauf stützen, sein Verhalten falle nicht unter das fragliche Verbot in der Verordnung.

 

Materiell ist der Hamburger Beschluss bemerkenswert, weil er den Verordnungsgeber an eine relativ kurze Leine legt. Letztlich liegt der Entscheidung nämlich die Auffassung des Gerichts zugrunde, der Verordnungsgeber habe nicht folgerichtig gehandelt, als er die Grenze zwischen Öffnung und Schließen der Einzelhandelsgeschäfte bei 800qm Verkaufsfläche zog. Denn genau betrachtet ist die Maßnahme, große Geschäfte zu schließen, nicht per se ungeeignet, die Personendichte auf den Straßen und damit die Infektionsgefahr zu mindern. Sie ist nach Einschätzung des Gerichts nur deshalb ungeeignet, weil der Verordnungsgeber gleichzeitig die kleineren Ladengeschäfte von der Schließung ausnahm.

Damit setzt das Verwaltungsgericht seine Einschätzung über die Auswirkungen der Maßnahme die an Stelle derjenigen des Verordnungsgebers. Es tut dies aber mit nachvollziehbaren Gründen und stützt sich insbesondere nicht auf epidemiologische, virologische oder sonstige medizinische Prognosen bezüglich des neuartigen SARS-COV2-Erregers, sondern auf allgemeine Lebenserfahrung.

 

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Ansicht des Verwaltungsgerichts Hamburg durchsetzen kann, dass die Schließung der Geschäfte mit Verkaufsflächen von mehr als 800qm rechtswidrig und damit eine Verletzung der Berufsfreiheit sei. Die bisher von den Oberverwaltungsgerichten Berlin-Brandenburg und Greifswald getroffenen Eilentscheidungen im Normenkontrollverfahren (OVG Berlin-Bbg Beschlüsse v. 17. April 2020, Az. OVG 11 S 22/20 und OVG 11 S 23/20 sowie OVG Greifswald, Beschluss v. 17.04.2020, 2 KM 333/20 OVG) betrafen noch die alte Verordnungslage, die eine solche Differenzierung nach der Verkaufsfläche nicht vorsah.

 

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